Stammersdorf – Neuerdings eine „hippe“ Wohngegend

Stammersdorf, Wien

Stammersdorf – Neuerdings eine „hippe“ Wohngegend

Stammersdorf ist längst aus seinem Dornröschenschlaf erwacht und bietet viele Annehmlichkeiten.

Text: Prof. Hans Werner Scheidl // Fotos: Christian Steinbrenner

Wienerinnen und Wiener kannten und kennen diese liebliche Gegend, die sich ihren dörflichen Charakter bis heute bewahrt hat, natürlich schon immer. Der Wein und die Kellergassen, die ihn auch heute noch bergen, waren seit eh und je ein magischer Anziehungspunkt. Aber seit dem 21. Dezember 1955 weiß die ganze Welt, dass sich hier schon um etwa 4800 Jahre vor unserer Zeitrechnung Menschen angesiedelt haben müssen.

Mindestens! Denn an diesem Tag fand man bei Grabungen die sensationelle „Venus vom Bisamberg“ auf der Flur „Burleiten“: Eine 17 Zentimeter große zierliche Frauenstatuette aus dunkelbraunem gebrannten Ton. Ganz schlank und hübsch, nicht so dick wie die Dame aus Willendorf. Für die Archäologen war es ein wahrer Glücksmoment. Zwar mussten die Siedler in der Jungsteinzeit noch ohne Wein hausen, aber sie besaßen offenbar künstlerischen Esprit und eine gewisse Grandezza, die die Stammersdorfer bis heute in ihrer DNA bewahren.

Sie nannten die Siedlung ganz nach Belieben „Stoumarsdorf“ oder auch „Stamleinsdorf“, „Stamestorff“ oder „Stavmestorf“ - wie es den Urkundenschreibern eben gefiel. Verbürgt ist in den diversen Urkunden, dass Herzog Albrecht der Lahme um die Mitte des 14. Jahrhunderts den Nonnen von St. Clara in Wien ein dort gelegenes Gut schenkte. Bevor wir uns in die verwirrende Story um Kauf und Tausch und Besitz verheddern, halten wir nur noch fest, dass das Dorf 1530 in den Besitz des Schottenklosters geriet. Um diese Zeit umfasste Stammersdorf rund hundert Häuser, Strebersdorf 33. Schon zuvor, 1469, tauschte Stephan von Eitzing alle ererbten Güter „als freies Eigentum“ gegen andere Güter an den Abt und Konvent des Schotten- stiftes zu Wien aus. Für sich und seine Erben behielt er nur den Getreidezehent zu „Ströblesdorf“ und „Stambesdorf“. Die Originalurkunde über diesen Tausch ist heute im Schottenstift aufbewahrt.

Wie all die Wiener Vororte durchlitt auch Stammersdorf Kriege, Verwüstungen, Brände, überlebte die grauenhafte Katastrophe der Pest, überstand die barbarischen Einfälle der Osmanen. Aber auch andere Völkerschaften drangsalierten den Ort. 1645 fielen die Schweden ein. Zwei Jahre später waren die überlebenden Bewohner so verarmt, dass das Wiener Schottenkloster den „Zehent“ erließ, also die Zwangsabgabe, ein Zehntel aller Einkünfte, das jeder Leibeigene den Mönchen abzuliefern hatte. 1655 dann noch die schreckliche Geißel der Pest, der ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Es waren harte Zeiten. Dadurch aber hatten sich die Bewohner offenbar eine gewisse Standfestigkeit angeeignet, denn 1595 weigerten sie sich einfach, den Robotdienst zur Befestigung der Stadt Klosterneuburg zu leisten. Gleichzeitig verlangte die Kirche neun Gulden für den Pfarrer. Auch dagegen revoltierten die Weinbauern. Ein Phänomen übrigens, das sich in vielen Wiener Vororten genau gleich abspielte. So wurden ihre Toten nur noch gegen Barzahlung an Ort und Stelle begraben.

Auch als Feldlager wurde der kleine Ort von diversen Kriegstruppen missbraucht. In die Bücher der ganz großen Weltgeschichte schaffte es der Ort aber nur einmal. Das war am 27. Dezember 1805, als es im Jägerhaus „Am Rendez-Vous“ zu einem Treffen Napoleon Bonapartes mit dem habsburgischen Erzherzog Carl kam. Der österreichische Oberbefehlshaber wollte eine Milderung der harten Bedingungen des Friedensvertrags von Preßburg, dazu war der französische Diktator aber nicht bereit. Das Gebäude beherbergt heute einen Baumarkt. So ändern sich eben die Zeiten ...

Wir überspringen all die Wirrungen und Irrungen der Zeiten und erwähnen nur noch, dass Stammersdorf 1928 zur Marktgemeinde erhoben und 1938 ein Teil des 21. Wiener Gemeindebezirks – Floridsdorf – wurde. Im Zweiten Weltkrieg waren am nahegelegenen Bisamberg viele Fliegerabwehr-Kanonen stationiert, um Wien vor Luftangriffen zu schützen. Vier sind noch in den Grundrissen erhalten – zu finden „An den alten Schanzen“. In dieser geschützten Zone wurde eine Flugzeugfabrik errichtet, deren Reste man noch heute besichtigen kann. Zwischen 1939 und 1940 wurde die heutige Van-Swieten-Kaserne an der Brünner Straße erbaut. Sie beherbergt das Heeresspital und die Sanitätsschule des Bundesheeres. Eine zweite Kaserne, eine Panzerwerkstatt, wurde in der Gerasdorferstraße errichtet. Die Anlagen wurden aber 2012 abgetragen. Dort erhebt sich jetzt eine große Wohnhaussiedlung.

Clessgasse, Stammersdorf, Wien

So unbedeutend der Ort die längste Zeit auch war, inzwischen hat er sich als schicke Wohngegend gemausert. Selbst verwöhnte Döblinger wären erstaunt: Im „Cottage von Stammersdorf“, der Clessgasse, wurden einige Villen prächtig saniert. Die Städter haben längst das lebenswerte Umfeld dieses einstigen Wiener Vororts zu schätzen gelernt. Sehen wir uns näher um: Wer heute durch den Ort wandert, wird bei der Endstation der Linie 31 beginnen. Der alte Bahnhof lag bis in die Achtzigerjahre auf der Eisenbahnverbindung zwischen Wien und dem Weinviertel. Vorbei an ebenmäßigen Wohnhäusern aus dem 19. Jahrhundert gelangt man über die Stammersdorfer Straße zum Freiheitsplatz, wo schon die ersten Heurigen winken. Der Platz bildet die Grenze zwischen „Ober-“ und „Unter-Ort“, was die „Unterörtler“ allerdings nicht gerne hören. In seiner Mitte befindet sich ein Park, in dem eine Säule, der „Schwarze Adler“, an das Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Joseph erinnert. Vor zwei Jahren hat man den Park neu angelegt. Wie auch andernorts hatte dieser Platz schon viele Namen, wie man sich denken kann. Im „Oberort“ befinden sich die alte Poststation (die noch von leibhaftigen „Erbpostmeistern“ geführt wurde) und etwas weiter das einstige Ortswirtshaus, heute leider eine Bankfiliale. Gegenüber der herrschaftliche Pfarrhof, der bis in das 17. Jahrhundert das Herrenhaus im Ort war. Entlang des Pfarrhofes führt die Liebleitnergasse zur Kirche und dem Ortsfriedhof. Die Straße weitet sich und teilt sich schließlich. In der Mitte lässt sich der einstige Dorfanger noch gut visualisieren.

Um die Pfarrkirche herum befand sich bis ins 19. Jahrhundert der Friedhof, wie es damals überall üblich war. Erst 1833 erwarb die Pfarrgemeinde außerhalb einen Weingarten für die Anlage eines neuen Friedhofs. Der wurde später nochmals erweitert. In den Fünfzigerjahren wurde schließlich die Pestsäule, die an der Luckenschwemm stand, renoviert und auf dem früheren Ortsfriedhof aufgestellt, umrahmt von prächtigen Bäumen.

Dann finden die Straßen wieder zueinander und bei der Kreuzung mit der Hagenbrunner Straße geht es direkt ins „Paradies“ - in die berühmte Stammersdorfer Kellergasse! Ein steil ansteigender Hohlweg, gewiss - aber was für einer! Zahlreiche Keller locken immer zu gewissen Zeiten mit dem Föhrenbuschen an einer langen Stange: „Ausg’steckt is‘!“ 1784 wurde von Kaiser Josef II. den Stammersdorfern das Privileg, selbst erzeugten Wein selbst ausschenken zu dürfen, erneuert. Das gilt bis heute. Klingende Namen sind dabei: Krenek, Wieninger, Zur Christl, Helm, Klager, Norbert Walter, Lentner, Leopold, Strauch, Biohof Steindl, Sackl, Vrbicky usw. Seit 1929 existiert der allseits bekannte und beliebte Gemischte Satz. Man glaubt es kaum: Ein Viertel der gesamten Wiener Weinernte stammt aus diesem kleinen Floridsdorfer Bezirksteil! Im Haus Schmidt etwa ist der liebliche Gastgarten nicht nur ziemlich lauschig, sondern er hält zudem eine besondere Attraktion parat: eine alte Eichenbaum-Presse aus dem Jahre 1807. Edelbrände sind die größte Leidenschaft von Inhaber Josef Schmidt. Und die sollte man unbedingt verkosten. Bei all den vielen Heurigen bildet ein reichhaltiges Buffet die gehörige „Unterlage“ für den Weingenuss. Kenner sprechen davon, dass die Qualität in nichts den Heurigen von Neustift am Walde oder Grinzing nachsteht.

Noch ist nichts fix. Aber wenn es Corona erlaubt, dann steigt hier am Wochenende vom 8. auf 9. Mai wieder das allseits berühmte „Mailüfterl“ und im Herbst sind die „stürmischen Tage“. Die Kellergasse wird für den Verkehr gesperrt und die Wirte verlegen ihre Gastronomie in den Hohlweg vor ihre Betriebe. Tausende Besucher lassen sich diese Feste nie entgehen. Und die Stammersdorfer freuen sich schon auf die Gäste. Man darf nur die Hoffnung nicht aufgeben ...

Aber nicht nur der Ort selbst bietet eine höchst angenehme Lebensqualität, es ist auch die nähere Umgebung, die Stammersdorf so attraktiv macht: Der Bisamberg. Er gehört seit dem Jahr 2000 zu einem europaweiten Netz von mehr als 20.000 Schutzgebieten, durch das besondere Tier- und Pflanzenarten sowie schutzwürdige Lebensräume auch zukünftigen Generationen erhalten bleiben sollen („Natura 2000“). Alle Mitgliedsstaaten haben zugesichert, dass sich in diesen Gebieten der Zustand der Schutzgüter nicht verschlechtern darf.

Erhalten geblieben ist hier auch die hübsche Villa Magdalenenhof (auch als Jagdschloss bezeichnet), die sich auf dem Bisamberg an der Übergangsstelle der Senderstraße (die von Stammersdorf kommt) zur Magdalenenhofstraße (die in Langenzersdorf beginnt) befindet. Sie vermittelt eine interessante Beziehung zum ältesten und größten Industriebetrieb von Jedlesee, der „Brauerei Jedlesee Rudolf Dengler“.

Wer hier wohnt, kann sich glücklich schätzen. Denn er/sie hat es nicht weit zu den lockenden Radwanderwegen. Auch das Naherholungsgebiet Marchfeldkanal lädt zum Radfahren ein. Entlang der ehemaligen Trasse der Landesbahn von Stammersdorf nach Pillichsdorf entstand 2003 ein 13 Kilometer langer Erlebnisradweg, der sich mit dem Thema „Eisenbahn“ beschäftigt. 2010 wurde der Radweg über Großengersdorf, Bockfließ, Strasshof bis Deutsch-Wagram verlängert. Die Streckenlänge beträgt 39 Kilometer und verläuft großteils auf asphaltiertem Radweg. Dieser Radweg ist abschnittsweise Teil des Eurovelo 9. Entlang der Strecke erzählen Erlebnisstopps von der Geschichte der Bahn. Es geht aber auch „Rund um den Bisamberg“: Der abwechslungsreiche Rundkurs führt vorbei an malerischen Dorfensembles, verträumten Kellergassen, kulturellen Kostbarkeiten und der weiten Ebene des Marchfeldes.

Kurz gesagt: Ein Wohntraum für jeden Städter.

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zum Autor: Prof. Hans Werner Scheidl arbeitete von 1965 bis 2009 als Redakteur der Wiener Tageszeitung „Die Presse“. Heute ist der Zeithistoriker und Buchautor freier Journalist.

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