So unbedeutend der Ort die längste Zeit auch war, inzwischen hat er sich als schicke Wohngegend gemausert. Selbst verwöhnte Döblinger wären erstaunt: Im „Cottage von Stammersdorf“, der Clessgasse, wurden einige Villen prächtig saniert. Die Städter haben längst das lebenswerte Umfeld dieses einstigen Wiener Vororts zu schätzen gelernt. Sehen wir uns näher um: Wer heute durch den Ort wandert, wird bei der Endstation der Linie 31 beginnen. Der alte Bahnhof lag bis in die Achtzigerjahre auf der Eisenbahnverbindung zwischen Wien und dem Weinviertel. Vorbei an ebenmäßigen Wohnhäusern aus dem 19. Jahrhundert gelangt man über die Stammersdorfer Straße zum Freiheitsplatz, wo schon die ersten Heurigen winken. Der Platz bildet die Grenze zwischen „Ober-“ und „Unter-Ort“, was die „Unterörtler“ allerdings nicht gerne hören. In seiner Mitte befindet sich ein Park, in dem eine Säule, der „Schwarze Adler“, an das Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Joseph erinnert. Vor zwei Jahren hat man den Park neu angelegt. Wie auch andernorts hatte dieser Platz schon viele Namen, wie man sich denken kann. Im „Oberort“ befinden sich die alte Poststation (die noch von leibhaftigen „Erbpostmeistern“ geführt wurde) und etwas weiter das einstige Ortswirtshaus, heute leider eine Bankfiliale. Gegenüber der herrschaftliche Pfarrhof, der bis in das 17. Jahrhundert das Herrenhaus im Ort war. Entlang des Pfarrhofes führt die Liebleitnergasse zur Kirche und dem Ortsfriedhof. Die Straße weitet sich und teilt sich schließlich. In der Mitte lässt sich der einstige Dorfanger noch gut visualisieren.
Um die Pfarrkirche herum befand sich bis ins 19. Jahrhundert der Friedhof, wie es damals überall üblich war. Erst 1833 erwarb die Pfarrgemeinde außerhalb einen Weingarten für die Anlage eines neuen Friedhofs. Der wurde später nochmals erweitert. In den Fünfzigerjahren wurde schließlich die Pestsäule, die an der Luckenschwemm stand, renoviert und auf dem früheren Ortsfriedhof aufgestellt, umrahmt von prächtigen Bäumen.
Dann finden die Straßen wieder zueinander und bei der Kreuzung mit der Hagenbrunner Straße geht es direkt ins „Paradies“ - in die berühmte Stammersdorfer Kellergasse! Ein steil ansteigender Hohlweg, gewiss - aber was für einer! Zahlreiche Keller locken immer zu gewissen Zeiten mit dem Föhrenbuschen an einer langen Stange: „Ausg’steckt is‘!“ 1784 wurde von Kaiser Josef II. den Stammersdorfern das Privileg, selbst erzeugten Wein selbst ausschenken zu dürfen, erneuert. Das gilt bis heute. Klingende Namen sind dabei: Krenek, Wieninger, Zur Christl, Helm, Klager, Norbert Walter, Lentner, Leopold, Strauch, Biohof Steindl, Sackl, Vrbicky usw. Seit 1929 existiert der allseits bekannte und beliebte Gemischte Satz. Man glaubt es kaum: Ein Viertel der gesamten Wiener Weinernte stammt aus diesem kleinen Floridsdorfer Bezirksteil! Im Haus Schmidt etwa ist der liebliche Gastgarten nicht nur ziemlich lauschig, sondern er hält zudem eine besondere Attraktion parat: eine alte Eichenbaum-Presse aus dem Jahre 1807. Edelbrände sind die größte Leidenschaft von Inhaber Josef Schmidt. Und die sollte man unbedingt verkosten. Bei all den vielen Heurigen bildet ein reichhaltiges Buffet die gehörige „Unterlage“ für den Weingenuss. Kenner sprechen davon, dass die Qualität in nichts den Heurigen von Neustift am Walde oder Grinzing nachsteht.
Noch ist nichts fix. Aber wenn es Corona erlaubt, dann steigt hier am Wochenende vom 8. auf 9. Mai wieder das allseits berühmte „Mailüfterl“ und im Herbst sind die „stürmischen Tage“. Die Kellergasse wird für den Verkehr gesperrt und die Wirte verlegen ihre Gastronomie in den Hohlweg vor ihre Betriebe. Tausende Besucher lassen sich diese Feste nie entgehen. Und die Stammersdorfer freuen sich schon auf die Gäste. Man darf nur die Hoffnung nicht aufgeben ...
Aber nicht nur der Ort selbst bietet eine höchst angenehme Lebensqualität, es ist auch die nähere Umgebung, die Stammersdorf so attraktiv macht: Der Bisamberg. Er gehört seit dem Jahr 2000 zu einem europaweiten Netz von mehr als 20.000 Schutzgebieten, durch das besondere Tier- und Pflanzenarten sowie schutzwürdige Lebensräume auch zukünftigen Generationen erhalten bleiben sollen („Natura 2000“). Alle Mitgliedsstaaten haben zugesichert, dass sich in diesen Gebieten der Zustand der Schutzgüter nicht verschlechtern darf.
Erhalten geblieben ist hier auch die hübsche Villa Magdalenenhof (auch als Jagdschloss bezeichnet), die sich auf dem Bisamberg an der Übergangsstelle der Senderstraße (die von Stammersdorf kommt) zur Magdalenenhofstraße (die in Langenzersdorf beginnt) befindet. Sie vermittelt eine interessante Beziehung zum ältesten und größten Industriebetrieb von Jedlesee, der „Brauerei Jedlesee Rudolf Dengler“.
Wer hier wohnt, kann sich glücklich schätzen. Denn er/sie hat es nicht weit zu den lockenden Radwanderwegen. Auch das Naherholungsgebiet Marchfeldkanal lädt zum Radfahren ein. Entlang der ehemaligen Trasse der Landesbahn von Stammersdorf nach Pillichsdorf entstand 2003 ein 13 Kilometer langer Erlebnisradweg, der sich mit dem Thema „Eisenbahn“ beschäftigt. 2010 wurde der Radweg über Großengersdorf, Bockfließ, Strasshof bis Deutsch-Wagram verlängert. Die Streckenlänge beträgt 39 Kilometer und verläuft großteils auf asphaltiertem Radweg. Dieser Radweg ist abschnittsweise Teil des Eurovelo 9. Entlang der Strecke erzählen Erlebnisstopps von der Geschichte der Bahn. Es geht aber auch „Rund um den Bisamberg“: Der abwechslungsreiche Rundkurs führt vorbei an malerischen Dorfensembles, verträumten Kellergassen, kulturellen Kostbarkeiten und der weiten Ebene des Marchfeldes.
Kurz gesagt: Ein Wohntraum für jeden Städter.
––––––––––––––––––––
zum Autor: Prof. Hans Werner Scheidl arbeitete von 1965 bis 2009 als Redakteur der Wiener Tageszeitung „Die Presse“. Heute ist der Zeithistoriker und Buchautor freier Journalist.
––––––––––––––––––––