Stationärer Einzelhandel: Mehr Dynamik, aber längere Entscheidungsphasen
Handel erfindet sich angesichts schwieriger Situation neu – Discounter und Luxus expandieren – Klimafreundlichkeit immer wichtiger
Text: Katharina Scheidl-Aziz // Fotos: Christian Steinbrenner
Der heimische Retailmarkt gestaltet sich heuer spürbar dynamisch, wie der aktuelle Marktbericht von OTTO Immobilien zeigt. Neue Konzepte und steigende Passantenfrequenzen führen den stationären Einzelhandel wieder in ruhigere Fahrwasser - das gilt ganz besonders für die Toplagen, berichtet Dipl. BW (BA) Anja Mutschler CIS ImmoZert, Teamleiterin Geschäftsflächen bei OTTO Immobilien.
Der stationäre Einzelhandel leidet nach wie vor unter den herrschenden Rahmenbedingungen – von gesunkener Kaufkraft über ein verändertes Konsumentenverhalten bis zu Insolvenzen, Verkaufsflächenreduktionen und erhöhten Energiekosten. Das allerdings hat dazu geführt, dass sich die Retailer, zum Teil zumindest, neu erfinden: sei es mit besonderen Storekonzepten, sei es mit alternativen Nutzungen, Monobrand-Stores oder Entertainment-Welten. Auch neue Player sind am Markt zu finden. „Wieder einmal zeigt sich, dass nichts so konstant ist, wie die Veränderung“, sagt Anja Mutschler.
Das führt zu einer durchaus dynamischen Vermietungssituation: Vor allem in den Top-Lagen wie dem Goldenen H oder der Kernzone der Mariahilfer Straße können zeitnahe und oftmals lukrative Nachvermietungen gewährleistet und damit längerem Leerstand entgegengewirkt werden. „Am stärksten nachgefragt sind Standorte mit überregionaler Anziehungskraft, hoher Passantenfrequenz sowie Lagen mit Verweilqualität“, so Anthony Crow, Msc, Abteilungsleiter Immobilienvermarktung Gewerbe.
Apropos Frequenz: „Es ist davon auszugehen, dass die realen Passantenfrequenzen im Jahr 2023 die 2022 von der WKO publizierten Werte um mindestens 10-20 % übersteigen. Damit liegt das Besucher*innenaufkommen der Wiener Einkaufsstraßen wieder auf dem Niveau vor der Corona- Pandemie und kann im europäischen Vergleich durchaus mit den Werten anderer Metropolen konkurrieren“, beschreibt Martin Denner, Abteilungsleiter Research die aktuelle Situation. Im Fokus des Expansionsgeschehens stehen somit neben den renommierten Einkaufsstraßen neu errichtete Begegnungszonen. Die Dynamik schlägt sich auch in den Mieten nieder: In den A-Lagen ist das Mietniveau stabil, in einzelnen Fällen, insbesondere bei Anmietungen von funktionalen Flächen in beliebten Hotspots, konnten sogar Mietpreissteigerungen erzielt werden. „In Summe lässt sich festhalten, dass sich die Wiener Einkaufsstraßen trotz teils widriger Umstände positiv entwickeln und somit in der nahen Zukunft mit einer spannenden Dynamik zu rechnen ist“, freut sich Mutschler.
Strengere und längere Prüfungsphasen
Eines ist bei Vermietungsprozessen allerdings zu bemerken: Durch die veränderten wirtschaftlichen Marktbedingungen und die hohen Raum- bzw. Baukosten haben sich sowohl die Prüfprozesse der Retailer als auch die Vertragsverhandlungen in der Anmietung deutlich verlängert - unabhängig vom jeweiligen Standort. „Was alle Retailer eint, ist die Tatsache, dass mehr Wert auf eine umfassende Standortanalyse gelegt wird und der Zeitraum der Gesamtabwicklung des Anmietungsprozesses tendenziell länger wird. Gleichzeitig wird in den Mietvertragsvereinbarungen mehr denn je Wert auf konsensfähige Lösungen in Bezug auf flexible Ausstiegsklauseln und Verlängerungsoptionen, Staffel- sowie Umsatzmieten, Baukostenzuschüsse, Pandemie- sowie Kriegsklauseln gelegt“, so Mutschler.
Gleichzeitig entwickeln sich neue, klimafreundliche Geschäftsmodelle und Shopping-Erlebnisse mit dem Ziel, ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit gerecht zu werden. Auch „Green Lease Klauseln“ sind immer öfter Bestandteil der Mietverträge, berichten die Expert:innen von OTTO Immobilien. Die voraussichtlich 2024 in Kraft tretende CSRD-Richtlinie (Corporate Sustainability Reporting Directive) und das in Entwurfsstadium befindliche Lieferkettengesetz sind weitere Treiber dieser Bestrebungen.
Neue Konzepte, neue Anforderungen
Die neuen Konzepte, auf die viele Retailer setzen, haben ebenso Form und Funktion der Shopfläche verändert. „Es sind verstärkt Anmietungen kleinerer Shops mit ebenerdigen Verkaufsflächen und direkt angebundenen Nebenflächen zu beobachten“, sagt Crow. An den am meisten nachgefragten Standorten können zwar weiterhin Großflächen solide nachvermietet werden, in den Nebenlagen jedoch gestalten sich Vermarktungsprozesse bei mehrgeschoßigen Shops oftmals als herausfordernd.
Discounter und Luxus geben den Ton an
Während bei einem Großteil der Retailer der Trend hin zu strategischen Portfoliooptimierungen beziehungsweise Relocations zu erkennen ist, erweisen sich zwei Teilsegmente derzeit als besonders expansiv – die Discounter und das Premium- bzw. Luxury-Segment. Erstere profitieren vom sich verändernden Konsumverhalten und der gesunkenen Kaufkraft, was sich im Ausbau des Standortnetzes niederschlägt. Zweitere wiederum sichern sich weltweit Top-Locations mit dem Ziel, Präsenz zu signalisieren. Dies ist deutlich erkennbar an den geplanten sowie bereits erfolgten Neueröffnungen hochwertiger Marken in Spitzenlagen der Wiener Innenstadt wie dem Goldenen H oder am Kohlmarkt. Neben diesen beiden Segmenten sind auch weiters verstärkt Monolabels, Produzenten und Hersteller auf Standortsuche.
Handelsflächen gehen zurück
Eine weitere interessante Tendenz ist bereits seit längerem erkennbar und wurde von den Expert:innen von Regioplan Consulting kürzlich analysiert – der Rückgang der Verkaufsfläche: Derzeit stehen je Einwohner zirka 1,56 m² Handelsfläche zur Verfügung, im Jahr 2014 waren es noch 1,77 m². Für Mutschler kein Grund zur Besorgnis: „Wir sind nach wie vor der festen Überzeugung, dass der stationäre Einzelhandel auch weiterhin eine wichtige Rolle in der Gestaltung attraktiver Innenstädte spielen wird. Die aktuellen Gesuche für Neuentwicklungen und Expansionsbestrebungen in den Einkaufsstraßen schaffen Zuversicht für eine positive Entwicklung“.
Investment: Handelsimmobilien werden wieder wichtiger
Auch am Investmentmarkt zeichnet sich für die Assetklasse Retail eine steigende Dynamik ab: „Mit Stand drittes Quartal konnte im Jahr 2023 ein Verkaufsvolumen von rund 473 Mio. Euro erzielt werden. Mit einem Anteil von 25 % am Gesamttransaktionsvolumen ist nach einem Corona-bedingt schwächeren Jahr 2022, in dem das Transaktionsvolumen lediglich 317 Mio. Euro und der Anteil 8 % betrug, ein Bedeutungsgewinn des Bereichs der Handelsimmobilien feststellbar“, sagt Dipl.-Kfm. Christoph Lukaschek MBA, MRICS, Abteilungsleiter Investment. Hauptverantwortlich für einen Großteil dieses Volumens war mit einem Anteil von ca. 74 % der Verkauf des Signa Retail Portfolios, welches 40 Immobilien der Kika/Leiner-Gruppe beinhaltet. Wie in anderen Assetklassen verzeichnen dabei auch Handelsimmobilien einen Preisrückgang, der aber weniger drastisch ausfällt als in anderen Assetklassen. Dies gilt insbesondere für Fachmarktzentren mit einem dominierenden Anteil an Nahversorgung“, sagt Lukaschek. Anders sieht es bei High Street Objekten in prestigeträchtigen Einkaufslagen des ersten Wiener Gemeindebezirks sowie der Mariahilfer Straße aus: Diese halten nach wie vor eine Ausnahmeposition am Immobilienmarkt.
Höchste Renditen bei 6,5 %
Die Spitzenrendite für neuwertige Fachmarktzentren an guten Standorten in Österreich lag bei 6,5 %, heißt es im Retail-Marktbericht weiter. Für ein Highstreet Objekt in Wien liegt die maximale Zahlungsbereitschaft der Investoren bei einer Rendite von 4,4 %, für Trophy-Objekte in absoluten Spitzenlagen kann sie auch noch darunter liegen.
Bei Einkaufszentren beträgt die Spitzenrendite derzeit 5,2 %, wobei in diesem Segment in den letzten 24 Monaten keine nennenswerte Transaktion stattgefunden hat. „Die Sektoren Büro, Wohnen und Logistik lassen bis zum Ende des Jahres weiter leicht steigende Renditen erwarten, während in den Sektoren Retail und Hotel die Spitzenrenditen bis zum Jahresende voraussichtlich um bis zu 50 Basispunkte steigen könnten“, sagt Lukaschek.