Durchzugsstraßen direkt vor dem Fenster
Aus den einstigen Oasen wurden laute Durchzugsstraßen. Diese offenen Durchhäuser wurden von den Hauseigentümern auch „Freiwilliger Durchgang“ genannt. Wie freiwillig dieser Durchgang allerdings für die Bewohner der Häuser war, das sei dahingestellt. Für die Mieter waren die neuen Straßenzüge mitten durch den Wohnblock oft sehr störend. Lärm und Gestank, die sich früher auf den Straßen entwickelten, wurden jetzt faktisch vor die Fenster getragen. Vor allem der Lärm war in den meist engen Höfen ein unangenehmer Nebeneffekt der Öffnung. Schnell etablierte sich eine neue Redewendung im Wiener Sprachgebrauch: „Des is jo ka Durchhaus!“ Damit äußerte man seinen Unmut bei übermäßigen Lärmbelästigungen durch die Verkehrswegnutzer, aber auch die Nachbarn. Um die Ruhe im Haus zumindest für die Nachtstunden sicherzustellen, wurden die Tore der Durchhäuser vom Hausmeister über Nacht geschlossen.
Der besondere Platz der Stadt
Für die Wienerin und den Wiener sind die Durchhäuser längst nicht mehr aus dem Stadtleben wegzudenken. Sie warten häufig mit Lokalen oder Geschäften im Innenhof auf und laden zum Schauen, Kaufen und Verweilen ein. Viele schätzen sich glücklich, ein Fenster in einen dieser ruhigen Innenhöfe zu haben. Sie bieten genau das, was eine Stadt ausmacht: Das Besondere, die Unikate. Kleine Schlupfwinkel, stille Gässchen und begrünte Oasen als Paralleluniversum zum allgegenwärtigen Großstadtgetriebe. Außerdem spürt man hier noch die Ursprünglichkeit der Stadt. Der ganz alten Stadt. Der Stadt, wie sie vor hundert, zweihundert oder noch mehr Jahren existierte. Betritt man nämlich die Innenhöfe, so scheint in einigen von ihnen die Zeit stehengeblieben zu sein. Der einzige Unterschied zu längst vergangenen Tagen ist, dass die Menschen moderne Kleidung tragen. Würde man solche Kostbarkeiten als Tourist in einer Stadt im Ausland entdecken, dann wäre man hellauf begeistert, könnte Tausende Fotos schießen und staunen: Dass es so etwas noch gibt!
Eintauchen ins städtische Leben
In der eigenen Stadt neigt der Mensch aber dazu, solche wunderbaren Plätze zu übersehen. Das hat man auch tatsächlich bislang in Wien getan und so entzogen sich diese Kostbarkeiten nicht nur den Blicken so mancher Anwohner, sondern auch jenen der Touristen. Das soll jetzt anders werden und Durchhäuser könnten in Zukunft ein Highlight eines Wienbesuches werden. Natürlich zählen für die Gäste der Donaumetropole etwa das Belvedere oder Schloss Schönbrunn zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten – aber auch diese Plätze gehören wohl dazu. Schönbrunn sollte man gesehen, die Durchhäuser aber erlebt und gespürt haben. Vor allem, da der Trend im Tourismus darin besteht, immer stärker ins städtische Leben einzutauchen.
Noch ein Geheimtipp
Mittlerweile hat man begonnen, Tafeln an den jeweiligen Häusern zu montieren, um auf diese Durchgänge aufmerksam zu machen. Nicht nur in den individuellen Reisetagebüchern von Touristen tauchen die Durchhäuser – noch als Geheimtipp – auf, sondern sie werden verstärkt in den Reiseführern dieser Welt beworben.
Das Blutgassenviertel
Einer der markantesten, ältesten und gleichzeitig faszinierendsten Plätze Wiens ist das alte Durchhaus, das die Blutgasse mit der Grünangergasse verbindet. Verschachtelte Innenhöfe und Treppen führen von einer Gasse zur nächsten. Wer wissen will, wie Wien vor 300 Jahren aussah, der kann sich an diesem Ort im ersten Wiener Gemeindebezirk einen bleibenden Eindruck holen: Eine zauberhafte grüne Oase mit wunderschönen Treppen, verspielten Balkonen und Pawlatschen sowie romantischen Lauben.
Der Raimundhof
Ein weiterer bemerkenswerter Durchgang führt von der belebten Mariahilfer Straße im sechsten Bezirk direkt in eine andere Welt. Dort, im Zentrum des Konsums, zeigt eine unscheinbare Tür den Eingang zum Raimundhof. Zuerst stößt der erstaunte Besucher auf einen Hof und dann weiter auf eine Aneinanderreihung mehrerer Stiegen und Höfe mit Geschäften, Lokalen und kleinen Gastgärten. Wer den Stiegen folgt und immer weiter- geht, gerät schließlich zum Naschmarkt. Der Raimundhof wurde auch in früherer Zeit für den Transport von Waren von den Märkten in die Mariahilfer Straße genützt.
Der siebente Bezirk
Das Amerlinghaus am Spittelberg ist ebenfalls ein Durchgangshaus, auch wenn man auf den ersten Blick von der Stiftgasse kommend meint, in einem Hof zu stehen. Erst auf den zweiten Blick ist die nächste Türe erkennbar, die direkt auf die Schrankgasse führt. Wobei für die Besucher hier nicht die Wegersparnis im Vordergrund steht, da sich die Schrankgasse gleich daneben befindet, sondern der Blick in vergangene Zeiten. Das Haus selbst stammt aus dem 17. Jahrhundert. Nicht weit vom Amerlinghaus entfernt liegt außerdem auch eines der längsten Durchhäuser Wiens. Zwischen Kirchengasse und Neubaugasse verbindet der Adlerhof die Siebensterngasse mit der Burggasse.
Spaziergang durch Wiens Innenhöfe
„Ein Spaziergang durch Wiens Innenhöfe ist eine so meditative wie geschichtlich interessante Tour, die nichts kostet“, steht in den Reiseführern über Wien: „Verträumte Gassen, versteckte Ecken, Bassena, Pawlatschen und Treppen – und überraschende Grün-Oasen inmitten historischer Mauern und Fenster-Fronten.“ So stellt sich die Frage, ob nicht irgendwann der eine oder andere Hausbewohner – wie damals im Wien der Jahrhundertwende – den Touristen wegen des Andrangs ein „Des ist jo ka Durchhaus!“ entgegenschleudert …
Dieser Gastbeitrag wurde entnommen aus unserem Zinshaus-Marktbericht 2018.