Versteckte Welten – das Wiener Durchhaus

Es sind eigene Welten, die sich hier auftun, im wahrsten Sinne des Wortes. Oft ist es nur ein unscheinbarer Eingang, der zu ihnen führt. Was dahinter liegt, kommt dann äußerst unerwartet und bringt einen immer wieder zum Staunen.

Ein Gastbeitrag von Mag. Walter Senk.

 

Sie entstanden zu einer Zeit, als die Füße das gängigste Verkehrsmittel waren und auch ein Großteil der Waren auf dem Rücken oder mit Handkarren durch die Stadt transportiert wurden. Heute sind sie Oasen in der Großstadt. Allerdings waren sie das nicht immer, aber dafür konnte man sie früher leichter finden. Sie wurden sogar gesucht, denn sie waren verkehrstechnisch gesehen für die Großstadt Wien enorm wichtig. Die Rede ist von den Durchhäusern.

 

So besonders wie die Gründerzeithäuser

 

Die Wiener Durchhäuser sind mindestens so besonders wie die Gründerzeithäuser und sind mit deren Geschichte auch untrennbar verbunden. Sie befinden sich in den Hinterhäusern der Wiener Großstadt und durchziehen ganze Wohnblöcke. Trotzdem entziehen sie sich den Blicken der Vorbeigehenden, die oft gar nichts von diesen einzigartigen Welten bemerken. Entdecken kann man sie nämlich erst, wenn man ganz genau schaut, denn viele verbergen sich hinter unscheinbaren Eingängen. Rund 700 gibt es heute noch und sie gelten als eine architektonische Besonderheit Wiens.

 

Treffpunkt und Oase im Haus

 

Doch Durchhäuser wurden prinzipiell nicht unbedingt aus architektonischen Gründen gebaut, wie die Gründerzeithäuser, sondern vielmehr aus praktischen. Innenhöfe und Durchhäuser waren in früherer Zeit der Treffpunkt in den Wohnblocks. Grund für diese wichtige Stellung war der zentrale Hausbrunnen, der mehrere Häuser mit dem notwendigen Nass versorgte – mehr als das, er war die sprichwörtliche Oase und das Lebenszentrum des Hauses. Hinter den prunkvollen Fassaden der Bürgerhäuser herrschte geschäftiges Treiben. In diesen meist schlichten (Hinter)Höfen wurde gearbeitet, Wäsche gewaschen, getratscht und Kinder spielten auf dem Kopfsteinpflaster. Hier fand das Leben der Menschen abseits der Straßen statt. Verständlich. Wohin hätte man auch gehen sollen? Die Wohnungen der normalen Bürger waren klein und Wohnraum knapp. Auch wer als Bettgeher auf seinen Platz im „vorgewärmten“ Bett wartete, der tat dies vornehmlich im Hof.

Vom Hausbrunnen zur Bassena

 

Mit der Zeit verloren die Hausbrunnen, von denen es Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien noch rund 10.000 gab, an Bedeutung. Die Wasserstelle wanderte im Laufe der Industrialisierung in die Hausflure. Die berühmte Wiener Bassena wurde in den einzelnen Stockwerken der neue Treffpunkt. Die Innenhöfe und die Durchhäuser waren nicht mehr der Mittelpunkt und daher auch nicht mehr so bevölkert. Im Gegensatz zur Stadt, denn die wuchs gewaltig.

 

Die Öffnung der Höfe

 

Hatte Wien im Jahr 1830 noch rund 400.000 Einwohner, so waren es 50 Jahre später bereits fast 1,2 Millionen. Um den Verkehr auf den Straßen, der hauptsächlich aus Fußgängern bestand, etwas zu entlasten, beschloss man in Wien, die Innenhöfe für Passanten zu öffnen. Parallel liegende Straßen konnten so durch diese Durchhäuser miteinander verbunden werden. Die Innenhöfe, die von beiden Seiten erreichbar waren, verkürzten damit zahlreiche Wege. Zu einer Zeit, als die Menschen noch selbst Lasten transportierten, waren Abkürzungen durch die Häuserblocks eine praktische Zeitersparnis. Betrachtet man die großen von ihnen, so sieht man, welche riesigen Wohnblöcke oft den Weg zwischen den Straßen „versperrten“. Fußgänger und Lastenträger kamen nun auf jeden Fall schneller von A nach B. Damit änderte sich aber auch die Bedeutung der Durchhäuser: Waren sie früher der Mittelpunkt des Hauslebens, so wurden sie jetzt zu richtigen Verkehrswegen. Folglich war es nun vorbei mit dem „höfischen“ Idyll.

Durchzugsstraßen direkt vor dem Fenster

 

Aus den einstigen Oasen wurden laute Durchzugsstraßen. Diese offenen Durchhäuser wurden von den Hauseigentümern auch „Freiwilliger Durchgang“ genannt. Wie freiwillig dieser Durchgang allerdings für die Bewohner der Häuser war, das sei dahingestellt. Für die Mieter waren die neuen Straßenzüge mitten durch den Wohnblock oft sehr störend. Lärm und Gestank, die sich früher auf den Straßen entwickelten, wurden jetzt faktisch vor die Fenster getragen. Vor allem der Lärm war in den meist engen Höfen ein unangenehmer Nebeneffekt der Öffnung. Schnell etablierte sich eine neue Redewendung im Wiener Sprachgebrauch: „Des is jo ka Durchhaus!“ Damit äußerte man seinen Unmut bei übermäßigen Lärmbelästigungen durch die Verkehrswegnutzer, aber auch die Nachbarn. Um die Ruhe im Haus zumindest für die Nachtstunden sicherzustellen, wurden die Tore der Durchhäuser vom Hausmeister über Nacht geschlossen.

 

Der besondere Platz der Stadt

 

Für die Wienerin und den Wiener sind die Durchhäuser längst nicht mehr aus dem Stadtleben wegzudenken. Sie warten häufig mit Lokalen oder Geschäften im Innenhof auf und laden zum Schauen, Kaufen und Verweilen ein. Viele schätzen sich glücklich, ein Fenster in einen dieser ruhigen Innenhöfe zu haben. Sie bieten genau das, was eine Stadt ausmacht: Das Besondere, die Unikate. Kleine Schlupfwinkel, stille Gässchen und begrünte Oasen als Paralleluniversum zum allgegenwärtigen Großstadtgetriebe. Außerdem spürt man hier noch die Ursprünglichkeit der Stadt. Der ganz alten Stadt. Der Stadt, wie sie vor hundert, zweihundert oder noch mehr Jahren existierte. Betritt man nämlich die Innenhöfe, so scheint in einigen von ihnen die Zeit stehengeblieben zu sein. Der einzige Unterschied zu längst vergangenen Tagen ist, dass die Menschen moderne Kleidung tragen. Würde man solche Kostbarkeiten als Tourist in einer Stadt im Ausland entdecken, dann wäre man hellauf begeistert, könnte Tausende Fotos schießen und staunen: Dass es so etwas noch gibt!

 

Eintauchen ins städtische Leben

 

In der eigenen Stadt neigt der Mensch aber dazu, solche wunderbaren Plätze zu übersehen. Das hat man auch tatsächlich bislang in Wien getan und so entzogen sich diese Kostbarkeiten nicht nur den Blicken so mancher Anwohner, sondern auch jenen der Touristen. Das soll jetzt anders werden und Durchhäuser könnten in Zukunft ein Highlight eines Wienbesuches werden. Natürlich zählen für die Gäste der Donaumetropole etwa das Belvedere oder Schloss Schönbrunn zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten – aber auch diese Plätze gehören wohl dazu. Schönbrunn sollte man gesehen, die Durchhäuser aber erlebt und gespürt haben. Vor allem, da der Trend im Tourismus darin besteht, immer stärker ins städtische Leben einzutauchen.

 

Noch ein Geheimtipp

 

Mittlerweile hat man begonnen, Tafeln an den jeweiligen Häusern zu montieren, um auf diese Durchgänge aufmerksam zu machen. Nicht nur in den individuellen Reisetagebüchern von Touristen tauchen die Durchhäuser – noch als Geheimtipp – auf, sondern sie werden verstärkt in den Reiseführern dieser Welt beworben.

 

Das Blutgassenviertel

 

Einer der markantesten, ältesten und gleichzeitig faszinierendsten Plätze Wiens ist das alte Durchhaus, das die Blutgasse mit der Grünangergasse verbindet. Verschachtelte Innenhöfe und Treppen führen von einer Gasse zur nächsten. Wer wissen will, wie Wien vor 300 Jahren aussah, der kann sich an diesem Ort im ersten Wiener Gemeindebezirk einen bleibenden Eindruck holen: Eine zauberhafte grüne Oase mit wunderschönen Treppen, verspielten Balkonen und Pawlatschen sowie romantischen Lauben.

Der Raimundhof

 

Ein weiterer bemerkenswerter Durchgang führt von der belebten Mariahilfer Straße im sechsten Bezirk direkt in eine andere Welt. Dort, im Zentrum des Konsums, zeigt eine unscheinbare Tür den Eingang zum Raimundhof. Zuerst stößt der erstaunte Besucher auf einen Hof und dann weiter auf eine Aneinanderreihung mehrerer Stiegen und Höfe mit Geschäften, Lokalen und kleinen Gastgärten. Wer den Stiegen folgt und immer weiter- geht, gerät schließlich zum Naschmarkt. Der Raimundhof wurde auch in früherer Zeit für den Transport von Waren von den Märkten in die Mariahilfer Straße genützt.

 

Der siebente Bezirk

 

Das Amerlinghaus am Spittelberg ist ebenfalls ein Durchgangshaus, auch wenn man auf den ersten Blick von der Stiftgasse kommend meint, in einem Hof zu stehen. Erst auf den zweiten Blick ist die nächste Türe erkennbar, die direkt auf die Schrankgasse führt. Wobei für die Besucher hier nicht die Wegersparnis im Vordergrund steht, da sich die Schrankgasse gleich daneben befindet, sondern der Blick in vergangene Zeiten. Das Haus selbst stammt aus dem 17. Jahrhundert. Nicht weit vom Amerlinghaus entfernt liegt außerdem auch eines der längsten Durchhäuser Wiens. Zwischen Kirchengasse und Neubaugasse verbindet der Adlerhof die Siebensterngasse mit der Burggasse.

 

Spaziergang durch Wiens Innenhöfe

 

„Ein Spaziergang durch Wiens Innenhöfe ist eine so meditative wie geschichtlich interessante Tour, die nichts kostet“, steht in den Reiseführern über Wien: „Verträumte Gassen, versteckte Ecken, Bassena, Pawlatschen und Treppen – und überraschende Grün-Oasen inmitten historischer Mauern und Fenster-Fronten.“ So stellt sich die Frage, ob nicht irgendwann der eine oder andere Hausbewohner – wie damals im Wien der Jahrhundertwende – den Touristen wegen des Andrangs ein „Des ist jo ka Durchhaus!“ entgegenschleudert …


Dieser Gastbeitrag wurde entnommen aus unserem Zinshaus-Marktbericht 2018.